Interview des russischen Botschafters in Deutschland Sergej J. Netschajew der Internet-Plattform „Deutsche Wirtschaftsnachrichten“

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie beurteilen Sie die aktuellen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und Deutschland?

Sergej J. Netschajew: Die deutsch-russischen Beziehungen durchleben offensichtlich nicht gerade ihre besten Zeiten. Von einer Krise zu sprechen, ist aus unserer Sicht jedoch zu früh. Auf der einen Seite beobachten wir, dass der Westen seinen erklärten und von Berlin geteilten Kurs fortführt, unser Land einzudämmen und mit Sanktionen unter Druck zu setzen. Das führt ohne Frage in die Sackgasse. Manche schlagen vor, mit Russland „aus der Position der Stärke“ zu sprechen. Auch dieser Versuch ist aussichtslos.

Auf der anderen Seite dürfen wir eine Vielzahl von positiven Entwicklungen nicht übersehen. Diese finden statt im Austausch zwischen den Zivilgesellschaften, Regionen und Parlamenten, in Wirtschaft, Energie, Innovation, Wissenschaft, Kultur, Geschichte und Kriegsgräberfürsorge. In Russland ist man offen für eine Zusammenarbeit mit der neuen Bundesregierung. Wir plädieren für einen respektvollen, gleichberechtigten, pragmatischen Dialog und die Suche nach einer Interessenbalance. Wir hoffen, dass auch Deutschlands neue politische Führung ihre Politik in diesem Sinne konstruktiv gestalten wird.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten:Verläuft die Zusammenarbeit zwischen der Russischen Föderation und Deutschland anders als vor dem Regierungswechsel in Berlin? Und – falls ja – worin bestehen diese Unterschiede?

Sergej J. Netschajew: Es ist noch zu früh, darüber zu urteilen. Über die Jahrzehnte gemeinsamer Geschichte konnten wir solide Erfahrungen einer konstruktiven Zusammenarbeit mit allen politischen Kräften in Deutschland sammeln. Das gilt auch für die jetzigen Regierungsparteien.

Gerade an diese Erfahrungen wollen wir anknüpfen. Wir gehen davon aus, dass das Bedürfnis nach einer Verbesserung der Beziehungen zu Russland von einem großen Teil der deutschen Öffentlichkeit getragen wird.

Der kontinuierliche Ausbau dieser Beziehungen würde den Interessen der Russen und Deutschen entsprechen. Das würde zur Stabilität und Sicherheit regional und global beitragen. Das Telefongespräch des russischen Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers sowie das erste Treffen von Russlands Außenminister und Deutschlands Bundesministerin des Auswärtigen bekräftigten, dass wir trotz bestehender Meinungsverschiedenheiten in sehr vielen Fragen vorankommen können. Es geht dabei nicht nur um den politischen und zivilgesellschaftlichen Dialog, sondern um die Zusammenarbeit in den Zukunftsbereichen wie Gesundheit, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Wasserstoff, erneuerbare Energieträger und Klimaschutz.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sind die (geo-)politischen Interessen der Russischen Föderation und Deutschlands prinzipiell miteinander vereinbar? Oder besteht hier Konfliktpotential?

Sergej J. Netschajew: Wir betrachten Deutschland als einen wichtigen internationalen Akteur, bedeutenden Nachbarn und Partner. Die Beziehungen zu Deutschland waren für uns stets von besonderer Natur. Letztendlich wünschen wir uns alle das eine: Prosperität für unsere Länder und Völker, Stabilität und Sicherheit, die unteilbar sein und für alle gelten muss.

Wir registrieren, wie hoch gefragt eine gemeinsame Bewältigung der drängenden globalen Herausforderungen wie Pandemien, Klimawandel, internationaler Terrorismus ist. In diesem Kontext verweisen wir lieber nicht aufs Konfliktpotential, sondern auf gemeinsame Interessen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Birgt der Konflikt in der Ukraine die Gefahr, dass die russisch- deutschen Beziehungen beschädigt werden?

Sergej J. Netschajew: Der Wunsch nach einer Lösung des inneren Konflikts im Osten der Ukraine muss uns nicht trennen, sondern verbinden. Es gibt einen eindeutigen Aktionsplan, der im Minsker Maßnahmenpaket festgeschrieben ist und im VN-Sicherheitsrat gebilligt wurde. Es gilt, diesen strikt und konsequent umzusetzen. Die Versuche des Westens, Russland als Partei im innerukrainischen Konflikt darzustellen und für Kiews abenteuerliche Politik und die verheerenden Folgen des verfassungswidrigen Staatsstreichs 2014 verantwortlich zu machen, sind kontraproduktiv. Bei den Konfliktparteien handelt es sich um Kiew, Donezk und Lugansk. Die Letzteren sind bloß daran „schuld“, den Putsch und die antirussischen Parolen vom Maidan nicht unterstützt zu haben. Deshalb wurden sie von der neuen Kiewer Regierung zu „Terroristen“ erklärt. Der Westen bevorzugte es damals, sich auszuschweigen und den Umsturz und die darauffolgenden Verbrechen der Nationalisten zu übersehen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Könnte Deutschland im Ukraine-Konflikt vermitteln?

Sergej J. Netschajew: Deutschland und Frankreich sind neben Russland Vermittler im Normandie- Format. Wir hoffen, dass sie aktiver auf die Kiewer Regierung einwirken werden, damit diese die eigenen Verpflichtungen erfüllt. Bislang zeitigt diese Mühe keine sichtbaren Ergebnisse. Kiew stellt sich demonstrativ gegen die Umsetzung der Minsker Abkommen und erklärt öffentlich, dass man keine Absicht habe, diese zu erfüllen und dass diese nur dafür gut seien, die Russland-Sanktionen möglichst lange zu erhalten. Berlin und Paris gehen aus unserer Sicht zu tolerant mit der Willkür der ukrainischen Regierung um, die sich gravierendste Verletzungen von Rechten und Freiheiten der russischsprachigen BürgerInnen des Landes, Schließung von oppositionellen Fernsehsendern, Verfolgung der Andersdenkenden etc. erlaubt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Erwarten Sie bezüglich der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 weitere Verzögerungen? Und – falls ja – worin könnten diese begründet liegen?

Sergej J. Netschajew: Unseren Teil des Weges sind wir gegangen. Trotz aller Hindernisse ist die Pipeline fertiggebaut und betriebsbereit. Sie entspricht den modernsten technologischen und

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Umwelt-Auflagen und stellt die kürzeste Route der Gaslieferungen aus Russland nach Deutschland dar. Wir sind bereit, mit den Lieferungen von heute auf morgen zu beginnen. Vom Pipeline-Betreiber „Nord Stream 2 AG“ wurde eine Tochtergesellschaft in der deutschen Jurisdiktion gegründet. Also kann das Zertifizierungsverfahren fortgeführt werden. Wir hoffen, dass die Bundesnetzagentur sachlich und entpolitisiert agiert und es nicht zu künstlichen Verzögerungen kommt. Eine objektive Veranlassung dafür können wir nicht erkennen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Kann Nord Stream 2 dazu beitragen, die Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und Deutschland sowie der EU zu stabilisieren?

Sergej J. Netschajew: Die Situation um die Gasleitung wird künstlich politisiert. Nord Stream 2 ist ein bedeutsames europäisches privatwirtschaftliches Projekt, in dem viel Kraft und Geld gebunden sind. Im Laufe seiner Fertigstellung wurden die ursprünglich vereinbarten Spielregeln mehrmals geändert. Neue rechtliche Vorschriften wurden rückwirkend verabschiedet, künstliche Hindernisse in den Weg gelegt sowie Drohungen ausgesprochen. Nichtsdestotrotz ist die Pipeline fertig. Eine zeitnahe Inbetriebnahme liegt zweifellos im Interesse deutscher Endverbraucher und wird zur Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen, Stabilisierung des europäischen Gasmarktes und Klimaneutralität angesichts des deutschen Atom- und Kohleausstiegs beitragen. Hinter den Forderungen, Berlin solle auf Nord Stream 2 verzichten, steckt entweder politische Konjunktur oder unlauterer Wettbewerb oder Populismus. Ich bin mir sicher: kein besonnener Politiker würde milliardenschwere Investitionen zur Verbesserung der Lebensqualität seiner Mitbürger in den Sand setzen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie beurteilen Sie es, dass der Sender RT DE in Deutschland keine Sendelizenz erhalten hat?

Sergej J. Netschajew: In keinem anderen Land wird RT mit einer solchen Voreingenommenheit wie in Deutschland konfrontiert. Die Arbeit von RT DE wurde von Anfang an diskreditiert. Seine Bankkonten wurden gekündigt. Den EU-Partnern verbot man, RT DE eine Sendelizenz zu erteilen. Der Sender wurde von einer Übertragung über Satellit ausgeschlossen, was klar gegen die „European Convention on Transfrontier Television“ verstößt. Wir verstehen nicht, was passiert. Will man fairen Medienwettbewerb vermeiden und deutschen Zuschauern alternative Sichtweisen auf weltpolitisches Geschehen vorenthalten? Es ist erstaunlich, dass so was in Deutschland passiert, wo man ununterbrochen von der Unzulässigkeit von Zensur und dem Gebot der Meinungsvielfalt und Medienfreiheit spricht.

Es ist auch schwer, die Verweise auf Regeln der Landesaufsichtsbehörden als gerechtfertigt zu akzeptieren. Das Hinausdrängen von RT DE aus dem Informationsraum widerspricht Berlins völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Gewährleistung der Meinungs- und Medienfreiheit. Unsere Botschaft ist ganz einfach: Russische Medien in Deutschland und deutsche Medien in Russland müssen gleichwertige und möglichst angenehme Arbeitsbedingungen genießen.

Wir verlangen ja nichts Besonderes. Aber wenn unser Medium auch weiterhin unter Druck gesetzt wird, werden wir uns Gegenmaßnahmen überlegen müssen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Worin bestehen die Stärken und worin die Schwächen in den russisch-deutschen Beziehungen?

Sergej J. Netschajew:Aus meiner Sicht besteht die wichtigste Stärke der russisch-deutschen Beziehungen in ihrer Vielfältigkeit und Intensität, gepaart mit historischen Erfahrungen und menschlichem Austausch. Nach dem blutigsten Krieg in der Menschheitsgeschichte gelang es unseren Nationen, einen schwierigen Weg der historischen Aussöhnung zurückzulegen. Dies führte zum Verständnis, dass es keine Alternative zu guter Nachbarschaft und gegenseitigem Respekt gibt. Deshalb ist es unsere wichtigste Aufgabe, das positive Potential der Beziehungen aufrechtzuerhalten und eine Entfremdung zwischen Russen und Deutschen zu verhindern.