"Vorbemerkung: Eine Studienreise „Auf den Spuren der Heeresgruppe Mitte“, organisiert von dem Berliner Verein Kontakte e.V., führ-te vom 10. bis 18. Oktober 1992 nach Belarus. Unsere Gruppe war bunt gemischt: Die jüngsten waren Oberschüler, die ältesten ehemalige Kriegsteilnehmer und ebenso viele Ost- wie Westdeutsche der unterschiedlichsten Ausbildung, Anschauungen und Berufe.
Es war eine Reise in die Geschichte, aber wir kamen auch mit den Menschen in Kontakt und sprachen über die gegenwärtigen Prob-leme der Republik Belarus. Die Belorussen sind fleißig, gut ausgebildet, freundlich, le-bensfroh und voller Hoffnung, in ihrem Land einmal gute Lebensbedingungen zu haben. Sie brauchen unsere Freundschaft und Unterstützung.
Drei Episoden sind mir unvergesslich geblieben. Ich habe sie im Oktober 1992 notiert:"
Marga Voigt, Jahrgang 1953, Slawistin, Bibliothekarin, Mitglied im Verein der Berliner Freunde der Völker Russlands, erzählt in drei Geschichten über ihre Erlebnisse während einer Studienreise in die Republik Belarus im Oktober 1992.
Es war eine Reise in die Geschichte, aber wir kamen auch mit den Menschen in Kontakt und sprachen über die gegenwärtigen Prob-leme der Republik Belarus. Die Belorussen sind fleißig, gut ausgebildet, freundlich, le-bensfroh und voller Hoffnung, in ihrem Land einmal gute Lebensbedingungen zu haben. Sie brauchen unsere Freundschaft und Unterstützung.
Drei Episoden sind mir unvergesslich geblieben. Ich habe sie im Oktober 1992 notiert:"
Marga Voigt, Jahrgang 1953, Slawistin, Bibliothekarin, Mitglied im Verein der Berliner Freunde der Völker Russlands, erzählt in drei Geschichten über ihre Erlebnisse während einer Studienreise in die Republik Belarus im Oktober 1992.
"Die Festung
Wir fahren zur Brester Festung. Meine erste Begegnung mit den Kampfstätten des Krieges auf sowjetischem Territorium. Da ist sie, die legendäre Festung. Der Eingang zum Gelände der Festung ist monumental, die Darstellung des Sowjetsterns unübersehbar. Aber nicht das ist es, was mich berührt, sondern die Musik, die mir entgegenschallt, das machtvolle Lied vom heiligen Krieg: Steh auf, steh auf, du Riesenland. Ein Kloß steckt mir im Hals, schon immer geht mir gerade dieses Lied tief unter die Haut, umso mehr hier, wo der schreckliche Krieg gegen die Sowjetunion begann. Vor mir erstehen die Bilder aus sowjetischen Filmen und Büchern, die ich in meiner Jugend leidenschaftlich gern gesehen und gelesen habe. Ich denke an die vielen berühmten und namenlosen Helden und Kämpfer und ihre ruhmvollen und tapferen Taten. Und nun? Wohin mit den hereinbrechenden Gefühlen, wie sie wieder bändigen? Ich spüre eine große Trauer in mir. Aber wie sie in Worte fassen? Es gelingt mir nicht. Ich gehe wie benommen durch den Eingang und versuche, das Marschlied aus dem Lautsprecher mitzusummen. Es gelingt mir nur schwer.
Wir fahren zur Brester Festung. Meine erste Begegnung mit den Kampfstätten des Krieges auf sowjetischem Territorium. Da ist sie, die legendäre Festung. Der Eingang zum Gelände der Festung ist monumental, die Darstellung des Sowjetsterns unübersehbar. Aber nicht das ist es, was mich berührt, sondern die Musik, die mir entgegenschallt, das machtvolle Lied vom heiligen Krieg: Steh auf, steh auf, du Riesenland. Ein Kloß steckt mir im Hals, schon immer geht mir gerade dieses Lied tief unter die Haut, umso mehr hier, wo der schreckliche Krieg gegen die Sowjetunion begann. Vor mir erstehen die Bilder aus sowjetischen Filmen und Büchern, die ich in meiner Jugend leidenschaftlich gern gesehen und gelesen habe. Ich denke an die vielen berühmten und namenlosen Helden und Kämpfer und ihre ruhmvollen und tapferen Taten. Und nun? Wohin mit den hereinbrechenden Gefühlen, wie sie wieder bändigen? Ich spüre eine große Trauer in mir. Aber wie sie in Worte fassen? Es gelingt mir nicht. Ich gehe wie benommen durch den Eingang und versuche, das Marschlied aus dem Lautsprecher mitzusummen. Es gelingt mir nur schwer.
Erst jetzt achte ich wieder auf die anderen in der Gruppe. Das Gelände der Festung ist sehr weiträumig, lang ist der Weg zum Obelisken mit dem ewigen Feuer. Überdimensional ist das Denkmal des sich verteidigenden Soldaten, unerbittlich und entschlossen ist sein Gesicht, stark seine Hand und mächtig sein Körper. Keiner kann diesem Denkmal entfliehen, es zieht alle in seinen Bann. Und trotzdem, in mir ist große Trauer. Etwas erwärmen kann sich mein Herz erst an dem stillen ewigen Feuer und der leisen Musik der Träumerei von Robert Schumann, die von irgendwo herüber klingt. Ich lese die vielen Namen der in der Festung Gefallenen und gehe mit den anderen in das Festungsmuseum. Aber meine Gedanken weilen nicht hier, woher kommt diese tiefe Trauer in mir? Es ist nicht nur die Trauer um die Opfer, die die Brester Soldaten gleich zu Beginn des Krieges brachten, um |
die vielen ruchlos überfallenen Menschen in der Festung und in der Stadt. Es ist eine andere, tiefer sitzende Trauer, woher rührt sie?
Im Museum sehen wir einen Film über die heldenhafte Verteidigung der Brester Festung. Zutiefst berührend sind die Schicksale der Menschen, die hier kämpften und starben, und trotzdem ist es nicht das, was mich so aufwühlt, aber was?
Ich brauche noch etwas Zeit, einen Moment noch. Jetzt meine ich, es in Worte fassen zu können, was mich so tief bewegt: Es ist die Ahnung eines großen Irrtums, die Trauer um eine verlorene Idee, das unbarmherzige Ende eines Traums von einer besseren Welt. Ausgerechnet hier in Brest wird es mir schmerzlich bewusst. Der Kampf war gnadenlos und unerbittlich auf beiden Seiten, der Heldenmut der Sowjetmenschen ist legendär, ihr entschlossener Kampf bleibt unübertroffen und war verdient siegreich. Wie wurden sie gefeiert, mit Ehrungen überhäuft und Orden behängt! Welch monumentale Denkmäler wurden ihrem Ruhm und Heldentum errichtet! Doch wie viel wert war ihr opfervoller Sieg für sie selbst, ihre Angehörigen und Freunde und Bewunderer in großen Teilen der Welt? Ja, Stalin und der Sowjetregierung begegnete man mit Achtung und Respekt, in Ost und West. Und den Sowjetmenschen? Wer kümmerte sich um ihr weiteres Schicksal und das Schicksal ihrer Angehörigen? Wie reagierte die internationale Öffentlichkeit auf die Verbrechen Stalins und die Stagnation unter Breshnew? In Ost und West machte sich schnell Heuchelei breit, geschürt wurde ein ebenso unerbittlicher wie erbarmungsloser Kalter Krieg. Und wieder mussten die einfachen Menschen im großen Sowjetland die größten Opfer bringen. Und wir schauten alle nur zu. Und erst heute, wo endlich auch der Kalte Krieg beendet ist, machen wir uns auf die Reise und suchen die Begegnung mit den Menschen der ehemaligen Sowjetunion. Warum erst jetzt?
Ich weiß, Trauer ist nicht das richtige Gefühl für unsere Reise nach Osten, zu den Menschen dort, aber ich schäme mich meines Gefühls nicht. Ich gehe bewusst und mit offenen Augen auf meine Reise durch Belarus und bin entschlossen, mir gegenüber ehrlich zu sein und den anderen eine gute Wegbegleiterin.
Trostenez
Wir fahren nach Trostenez. Wer kennt Trostenez? Keiner aus unserer Gruppe hat je diesen Namen gehört. Trostenez war das größte Konzentrationslager der Deutschen auf sowjetischem Gebiet. Unser Weg führt uns an den Stadtrand von Minsk. Neubaugebiete, ähnlich wie die von Marzahn, lassen wir hinter uns. Der Weg führt uns vorbei an einem riesigen Müllabladeplatz. Wir halten vor einem Kiefernwald. Und hier erfahren wir von unserer Reiseleiterin das Abscheulichste, was ich je gehört habe. Ich bestaune den Mut, mit dem sie gefasst ihre Notizen vorträgt. Sie erläutert uns die sogenannte „Enterdungsak-tion“ der faschistischen Barbaren: Als die Rote Armee immer näher an Minsk heranrückte, ergriffen die Faschisten Maßnahmen, um ihre grausamen Verbrechen zu verwischen. Die Umgebung von Minsk war von Massen-gräbern übersät. Die größten von ihnen ließen sie wieder öffnen und die verwesten Leichen herausholen. Sie ließen riesige Leichenberge auftürmen: immer eine Schicht Leichen, eine Schicht Baumholz, eine Schicht Leichen, eine Schicht Baumholz, wieder Leichen, meterhoch ... Grausige Scheiterhaufen brannten Tag für Tag.
Ich höre zu und mir wird furchtbar übel, ich will weghören und kann es nicht. Ich muss wissen, was hier geschah. Es ist Teil der deutschen Geschichte und ich bin eine Deutsche. Mir ist elend. Tapfer konzentriere ich mich auf das Gesagte. Völlig sinnlos heißt dieser Ort Blagowschtschina, darin steckt das russische Wort blago, das bedeutet Wohl und Heil. Heute erinnert an diesem Wäldchen nichts mehr an das grausame Wüten der Faschisten, keine Tafel, kein Stein, kein schlichtes Kreuz, nichts. Ich behalte beschämt meine Blumen. Ich habe weiße und rote Nelken dabei – weiß und rot – die Farben der unabhängigen Republik Belarus.
Wir fahren weiter, jetzt dorthin, wo sich das Konzentrationslager befand. Schon am Straßenrand macht eine Tafel darauf aufmerksam. Wir steigen aus und gehen zu einem kleinen Mahnmal, umgeben von einem niedrigen, schmiedeeisernen Zaun. Wieder höre ich die sachlich vorgetragenen Notizen, die furchtbaren Fakten, die Zahlen der wehrlo-sen Opfer, die Maschinerie der planmäßigen Vernichtung, doch jetzt kann ich nicht mehr. Bevor mir schwarz vor Augen wird, entferne ich mich leise von der Gruppe und suche Halt irgendwo an dem kleinen Zaun des Mahnmals. Die Tränen sind nicht mehr zurückzuhalten und irgendwie stecke ich eine rote Nelke an den Zaun und versuche, mich zu beruhigen. Da tritt Jutta leise an mich heran, ich bin ihr dankbar für ihre Nähe, lehne mich bei ihr an und schluchze wie ein kleines Kind. Sie lässt mich gewähren und ganz langsam gehen wir Arm in Arm den anderen hinterher.
Das Gelände ist groß und unbebaut. Langsam hebe ich wieder den Kopf und habe Augen für den klaren Herbsttag. Ich schaue mich um. Im Hintergrund die Neubauten und eine Bau-stelle, davor eine kleine, alte Bauernhütte.
Auf dem Gelände weiden einträchtig beieinander Kühe, Ziegen und Schafe, bewacht von einer Frau in derben Stiefeln und gesteppter Jacke. Ich möchte unbedingt ein paar Worte mit ihr wechseln und gehe auf sie zu. Ich blicke in ein Gesicht, das viel jünger ist als meins und bin etwas verwirrt. Macht nichts, ich wünsche ihr einen guten Tag und ich schenke ihr von meinen Blumen, eine rote und eine weiße – die Farben von Belarus. Und wir reden ein bisschen miteinander, so von Frau zu Frau. Und ich merke, wie ich wie-der in der Gegenwart ankomme, wie sich mein Herz beruhigt. Wir verabschieden uns freundlich voneinander, und wieder laufe ich, um die anderen einzuholen.
Walter
Unser Weg führt uns am letzten Tag ca. 40 km südlich von Minsk in das Dorf Charowitsche. Ein kleines Dorf mit nur wenigen, vor allem alten Einwohnern, kleinen Hütten mit Gärten und ungepflasterten Wegen. Vor den Häu-sern hin und wieder eine kleine Bank zum Ausruhen. Die Ebereschen stehen in voller Pracht ihrer leuchtend roten Beeren und die Apfelbäume tragen schwer an ihrer Last. Ein stilles, abgelegenes Dorf, wie wir so viele schon gesehen hatten, und doch erwartet uns hier eine ganz besondere Begegnung.
Im Mittelpunkt unserer Gruppe steht heute Walter, ein freundlicher, überaus sympathi-scher und stattlicher Mann in den Sechzigern.
Im Museum sehen wir einen Film über die heldenhafte Verteidigung der Brester Festung. Zutiefst berührend sind die Schicksale der Menschen, die hier kämpften und starben, und trotzdem ist es nicht das, was mich so aufwühlt, aber was?
Ich brauche noch etwas Zeit, einen Moment noch. Jetzt meine ich, es in Worte fassen zu können, was mich so tief bewegt: Es ist die Ahnung eines großen Irrtums, die Trauer um eine verlorene Idee, das unbarmherzige Ende eines Traums von einer besseren Welt. Ausgerechnet hier in Brest wird es mir schmerzlich bewusst. Der Kampf war gnadenlos und unerbittlich auf beiden Seiten, der Heldenmut der Sowjetmenschen ist legendär, ihr entschlossener Kampf bleibt unübertroffen und war verdient siegreich. Wie wurden sie gefeiert, mit Ehrungen überhäuft und Orden behängt! Welch monumentale Denkmäler wurden ihrem Ruhm und Heldentum errichtet! Doch wie viel wert war ihr opfervoller Sieg für sie selbst, ihre Angehörigen und Freunde und Bewunderer in großen Teilen der Welt? Ja, Stalin und der Sowjetregierung begegnete man mit Achtung und Respekt, in Ost und West. Und den Sowjetmenschen? Wer kümmerte sich um ihr weiteres Schicksal und das Schicksal ihrer Angehörigen? Wie reagierte die internationale Öffentlichkeit auf die Verbrechen Stalins und die Stagnation unter Breshnew? In Ost und West machte sich schnell Heuchelei breit, geschürt wurde ein ebenso unerbittlicher wie erbarmungsloser Kalter Krieg. Und wieder mussten die einfachen Menschen im großen Sowjetland die größten Opfer bringen. Und wir schauten alle nur zu. Und erst heute, wo endlich auch der Kalte Krieg beendet ist, machen wir uns auf die Reise und suchen die Begegnung mit den Menschen der ehemaligen Sowjetunion. Warum erst jetzt?
Ich weiß, Trauer ist nicht das richtige Gefühl für unsere Reise nach Osten, zu den Menschen dort, aber ich schäme mich meines Gefühls nicht. Ich gehe bewusst und mit offenen Augen auf meine Reise durch Belarus und bin entschlossen, mir gegenüber ehrlich zu sein und den anderen eine gute Wegbegleiterin.
Trostenez
Wir fahren nach Trostenez. Wer kennt Trostenez? Keiner aus unserer Gruppe hat je diesen Namen gehört. Trostenez war das größte Konzentrationslager der Deutschen auf sowjetischem Gebiet. Unser Weg führt uns an den Stadtrand von Minsk. Neubaugebiete, ähnlich wie die von Marzahn, lassen wir hinter uns. Der Weg führt uns vorbei an einem riesigen Müllabladeplatz. Wir halten vor einem Kiefernwald. Und hier erfahren wir von unserer Reiseleiterin das Abscheulichste, was ich je gehört habe. Ich bestaune den Mut, mit dem sie gefasst ihre Notizen vorträgt. Sie erläutert uns die sogenannte „Enterdungsak-tion“ der faschistischen Barbaren: Als die Rote Armee immer näher an Minsk heranrückte, ergriffen die Faschisten Maßnahmen, um ihre grausamen Verbrechen zu verwischen. Die Umgebung von Minsk war von Massen-gräbern übersät. Die größten von ihnen ließen sie wieder öffnen und die verwesten Leichen herausholen. Sie ließen riesige Leichenberge auftürmen: immer eine Schicht Leichen, eine Schicht Baumholz, eine Schicht Leichen, eine Schicht Baumholz, wieder Leichen, meterhoch ... Grausige Scheiterhaufen brannten Tag für Tag.
Ich höre zu und mir wird furchtbar übel, ich will weghören und kann es nicht. Ich muss wissen, was hier geschah. Es ist Teil der deutschen Geschichte und ich bin eine Deutsche. Mir ist elend. Tapfer konzentriere ich mich auf das Gesagte. Völlig sinnlos heißt dieser Ort Blagowschtschina, darin steckt das russische Wort blago, das bedeutet Wohl und Heil. Heute erinnert an diesem Wäldchen nichts mehr an das grausame Wüten der Faschisten, keine Tafel, kein Stein, kein schlichtes Kreuz, nichts. Ich behalte beschämt meine Blumen. Ich habe weiße und rote Nelken dabei – weiß und rot – die Farben der unabhängigen Republik Belarus.
Wir fahren weiter, jetzt dorthin, wo sich das Konzentrationslager befand. Schon am Straßenrand macht eine Tafel darauf aufmerksam. Wir steigen aus und gehen zu einem kleinen Mahnmal, umgeben von einem niedrigen, schmiedeeisernen Zaun. Wieder höre ich die sachlich vorgetragenen Notizen, die furchtbaren Fakten, die Zahlen der wehrlo-sen Opfer, die Maschinerie der planmäßigen Vernichtung, doch jetzt kann ich nicht mehr. Bevor mir schwarz vor Augen wird, entferne ich mich leise von der Gruppe und suche Halt irgendwo an dem kleinen Zaun des Mahnmals. Die Tränen sind nicht mehr zurückzuhalten und irgendwie stecke ich eine rote Nelke an den Zaun und versuche, mich zu beruhigen. Da tritt Jutta leise an mich heran, ich bin ihr dankbar für ihre Nähe, lehne mich bei ihr an und schluchze wie ein kleines Kind. Sie lässt mich gewähren und ganz langsam gehen wir Arm in Arm den anderen hinterher.
Das Gelände ist groß und unbebaut. Langsam hebe ich wieder den Kopf und habe Augen für den klaren Herbsttag. Ich schaue mich um. Im Hintergrund die Neubauten und eine Bau-stelle, davor eine kleine, alte Bauernhütte.
Auf dem Gelände weiden einträchtig beieinander Kühe, Ziegen und Schafe, bewacht von einer Frau in derben Stiefeln und gesteppter Jacke. Ich möchte unbedingt ein paar Worte mit ihr wechseln und gehe auf sie zu. Ich blicke in ein Gesicht, das viel jünger ist als meins und bin etwas verwirrt. Macht nichts, ich wünsche ihr einen guten Tag und ich schenke ihr von meinen Blumen, eine rote und eine weiße – die Farben von Belarus. Und wir reden ein bisschen miteinander, so von Frau zu Frau. Und ich merke, wie ich wie-der in der Gegenwart ankomme, wie sich mein Herz beruhigt. Wir verabschieden uns freundlich voneinander, und wieder laufe ich, um die anderen einzuholen.
Walter
Unser Weg führt uns am letzten Tag ca. 40 km südlich von Minsk in das Dorf Charowitsche. Ein kleines Dorf mit nur wenigen, vor allem alten Einwohnern, kleinen Hütten mit Gärten und ungepflasterten Wegen. Vor den Häu-sern hin und wieder eine kleine Bank zum Ausruhen. Die Ebereschen stehen in voller Pracht ihrer leuchtend roten Beeren und die Apfelbäume tragen schwer an ihrer Last. Ein stilles, abgelegenes Dorf, wie wir so viele schon gesehen hatten, und doch erwartet uns hier eine ganz besondere Begegnung.
Im Mittelpunkt unserer Gruppe steht heute Walter, ein freundlicher, überaus sympathi-scher und stattlicher Mann in den Sechzigern.
Vor Tagen schon, in den ersten Diskussions-runden in unserer Gruppe, sprach er von seinen Kriegserlebnissen in Belarus. Er war Soldat der Wehrmacht und war beim Einsatz dabei, als sie u. a. in diesem Dorf, südlich von Minsk, bei den Bewohnern Vieh und Lebensmittel zur Versorgung der deutschen Truppenteile requirieren mussten. Er sprach sehr erregt von dieser Zeit. Bei Antritt seiner Reise nach Belarus |
hatte er sich fest vorgenommen, in eben dieses Dorf zu fahren, die Menschen wieder zu sehen und sich bei ihnen zu entschuldigen. Walter hatte Lebensmittel und andere nützliche Sachen gemeinsam mit seiner Frau für diesen Weg zusammengetragen und ihr beim Abschied fest versprochen, alles an Ort und Stelle abzugeben. In der Gruppe herrschte einen Moment lang Stille, dann meldete sich eine unserer Jüngsten zu Wort. Das findet sie ganz toll, dass er das machen will, alle Achtung! Dem stimmten wir zu und einige erklärten sofort ihre Bereitschaft, ihn auf diesem schweren, aber so wichtigen Weg zu begleiten.
Deutsche und Belorussen, endlich reden wir miteinander. Und wir Deutschen hören aufmerksam zu. Die Offenherzigkeit der Dorfbewohner uns Deutschen gegenüber kommt für uns unerwartet. Sie haben Vertrauen zu uns und erzählen uns, wie schwer ihr Leben auch gegenwärtig ist. Aber sie klagen nicht, weder über die Vergangenheit noch über die Gegenwart, sie erzählen uns einfach wie es damals war und wie es heute ist. Und wir hören betroffen zu. Und nun ist es soweit. Acht aus unserer Gruppe gehen mit Walter. Unser Bus fährt in Charowitsche ein und hält mitten im Ort. Wir steigen aus. Allein Walter weiß sich aus der Erinnerung her zu orientieren. Wir anderen schlendern ein wenig um-her. Zögernd, aber dann doch bestimmt, kommen ein paar alte Leute, vor allem Frauen auf uns zu. Wir kommen ins Gespräch, woher wir kommen und was uns zu ihnen führt. Nicht gleich, aber dann umso deutlicher waren die Kriegserlebnisse wieder da. Ein alter Mann erzählt, wo er gekämpft hat, die Frauen erinnern sich, wie schlimm die Zeit war, wie schwer es war, sich und vor allem die Kinder durchzubringen. Das ist inzwischen lange her und doch noch lebendig. Unmerklich versammeln wir uns mit den Dorfbewohnern vor einem Haus und alle sprechen durcheinander. Jeder will etwas erzählen. Eine Frau weint, sie ist nur etwa zehn Jahre älter als ich. Ich erfahre, dass ihr Vater bei den Partisanen kämpfte und erschossen wurde. Neben ihr steht ihre Mutter, eine alte, gebeugte Frau. Betroffen nehme ich die weinende Frau wie eine Schwester in den Arm. Ein anderer erzählt voller Stolz, wie er in der 3. Belorussischen Armee gekämpft hat und bei der Einnahme von Königsberg (heute Kaliningrad) dabei war. Ich erinnere mich in dem Moment ganz deutlich an die Erzählungen meines Vaters. Er lebte mit seinen Eltern in Königsberg. Die Schlacht um Königsberg war sehr erbittert. Im letzten Moment zogen die Deutschen noch die ganz Jungen und die Alten in den Volkssturm ein. Das Inferno war entsetzlich, alle drei, mein Vater, mein Großvater und auch die Großmutter gerieten in sowjetische Kriegsgefangenschaft, jeder in ein anderes Lager. Erschüttert höre ich dem alten belorussischen Frontkämpfer zu. Die Geschichte ist unerbittlich, und wir müssen solche Gespräche führen. Aber es ist unheimlich schwer. Er schaut in mein Gesicht und krempelt den Ärmel seiner alten Jacke auf, ich sehe den von zahllosen Verwundungen entstellten Arm und bin ganz still. In Charowitsche auf der Dorfstraße holt uns die Geschichte ein.
Plötzlich sagt die Hausherrin, bitte seid meine Gäste und tretet bei mir ein. Ich bitte euch in mein Haus, nehmt Platz, da redet es sich besser. Nun waren wir es, die zögerlich waren. Können wir denn diese Einladung annehmen? Wir können. Die Gastfreundschaft der einfachen Menschen auf dem Lande ist überwältigend.
Wir gehen ein wenig im Haus umher und sehen, wie sie hier unbeschreiblich einfach, aber gut miteinander leben, die Großmutter (79) mit ihren zwei Töchtern und dem Schwiegersohn (alle über 50). Die Kinder halfen heute (es ist gerade Wochenende) bei der großen Wäsche.
Deutsche und Belorussen, endlich reden wir miteinander. Und wir Deutschen hören aufmerksam zu. Die Offenherzigkeit der Dorfbewohner uns Deutschen gegenüber kommt für uns unerwartet. Sie haben Vertrauen zu uns und erzählen uns, wie schwer ihr Leben auch gegenwärtig ist. Aber sie klagen nicht, weder über die Vergangenheit noch über die Gegenwart, sie erzählen uns einfach wie es damals war und wie es heute ist. Und wir hören betroffen zu. Und nun ist es soweit. Acht aus unserer Gruppe gehen mit Walter. Unser Bus fährt in Charowitsche ein und hält mitten im Ort. Wir steigen aus. Allein Walter weiß sich aus der Erinnerung her zu orientieren. Wir anderen schlendern ein wenig um-her. Zögernd, aber dann doch bestimmt, kommen ein paar alte Leute, vor allem Frauen auf uns zu. Wir kommen ins Gespräch, woher wir kommen und was uns zu ihnen führt. Nicht gleich, aber dann umso deutlicher waren die Kriegserlebnisse wieder da. Ein alter Mann erzählt, wo er gekämpft hat, die Frauen erinnern sich, wie schlimm die Zeit war, wie schwer es war, sich und vor allem die Kinder durchzubringen. Das ist inzwischen lange her und doch noch lebendig. Unmerklich versammeln wir uns mit den Dorfbewohnern vor einem Haus und alle sprechen durcheinander. Jeder will etwas erzählen. Eine Frau weint, sie ist nur etwa zehn Jahre älter als ich. Ich erfahre, dass ihr Vater bei den Partisanen kämpfte und erschossen wurde. Neben ihr steht ihre Mutter, eine alte, gebeugte Frau. Betroffen nehme ich die weinende Frau wie eine Schwester in den Arm. Ein anderer erzählt voller Stolz, wie er in der 3. Belorussischen Armee gekämpft hat und bei der Einnahme von Königsberg (heute Kaliningrad) dabei war. Ich erinnere mich in dem Moment ganz deutlich an die Erzählungen meines Vaters. Er lebte mit seinen Eltern in Königsberg. Die Schlacht um Königsberg war sehr erbittert. Im letzten Moment zogen die Deutschen noch die ganz Jungen und die Alten in den Volkssturm ein. Das Inferno war entsetzlich, alle drei, mein Vater, mein Großvater und auch die Großmutter gerieten in sowjetische Kriegsgefangenschaft, jeder in ein anderes Lager. Erschüttert höre ich dem alten belorussischen Frontkämpfer zu. Die Geschichte ist unerbittlich, und wir müssen solche Gespräche führen. Aber es ist unheimlich schwer. Er schaut in mein Gesicht und krempelt den Ärmel seiner alten Jacke auf, ich sehe den von zahllosen Verwundungen entstellten Arm und bin ganz still. In Charowitsche auf der Dorfstraße holt uns die Geschichte ein.
Plötzlich sagt die Hausherrin, bitte seid meine Gäste und tretet bei mir ein. Ich bitte euch in mein Haus, nehmt Platz, da redet es sich besser. Nun waren wir es, die zögerlich waren. Können wir denn diese Einladung annehmen? Wir können. Die Gastfreundschaft der einfachen Menschen auf dem Lande ist überwältigend.
Wir gehen ein wenig im Haus umher und sehen, wie sie hier unbeschreiblich einfach, aber gut miteinander leben, die Großmutter (79) mit ihren zwei Töchtern und dem Schwiegersohn (alle über 50). Die Kinder halfen heute (es ist gerade Wochenende) bei der großen Wäsche.
Viel Arbeit gibt es auch in Haus, Hof und Garten. Nun sitzen wir um den Tisch herum, drinnen ist es gemütlich warm. Schnell brachte die Hausfrau Brot. Die Frauen trugen selbst eingelegte Gurken, frische Tomaten, Fleisch, Äpfel, gekochte Kartoffeln und den unvermeidlichen Knoblauch herein. Wir waren verblüfft, aber unsere anfängliche Unsicherheit verging durch diese herzliche Gastfreundschaft sehr schnell. Unsere Gastgeber waren so natürlich und liebenswürdig, dass wir uns sofort |
wohl fühlten und gern zulangten. Der Schwiegersohn holte von irgendwoher den Selbstgebrannten und die Töchter bestanden darauf, dass jeder Gast das Glas nach Sitte des Hauses in einem Zug auf die Gesundheit ihrer Mutter leert. Wer kann dieser Aufforderung ernsthaft widerstehen? Natürlich haben wir etliche Gläser auf die Gesundheit der Großmutter getrunken, und wer von uns keinen Alkohol vertrug, dem sprang der Tischnachbar bei, sich der angenehmen Pflicht zu entledigen, auf die Gesundheit dieser warmherzigen, einfachen und guten Frau zu trinken.
Mitten in unserer angeregten Unterhaltung bei Tisch, nimmt mich die Großmutter am Arm und sagt, hätten doch Stalin und Hitler miteinander gekämpft und uns Menschen in Ruhe gelassen. Tun wir alles, dass es nie wieder Krieg gibt und Menschen, die im Grunde ihres Herzens friedliebend sind, nicht aufeinander schießen müssen. Darauf haben wir nochmals angestoßen. Möge es so sein!
Und Walter? Ich habe ihn beinahe vergessen. Er sitzt mir gegenüber, hält den Kopf in die Hände gestützt und weint. Seine Tischnachbarin hat schon ihren Arm um ihn gelegt. Sie redet leise mit ihm. Walter, was geht jetzt in dir vor? Ich glaube, ich verstehe deine tiefe Erschütterung. Das muss so sein. Das ist gut so. Wir müssen so tief erschüttert sein, und dieses Gefühl muss Platz greifen in unseren Herzen. Nur so bewahren wir uns davor, jemals wieder ein anderes Land mit kriegerischen Absichten zu betreten.
Mitten in unserer angeregten Unterhaltung bei Tisch, nimmt mich die Großmutter am Arm und sagt, hätten doch Stalin und Hitler miteinander gekämpft und uns Menschen in Ruhe gelassen. Tun wir alles, dass es nie wieder Krieg gibt und Menschen, die im Grunde ihres Herzens friedliebend sind, nicht aufeinander schießen müssen. Darauf haben wir nochmals angestoßen. Möge es so sein!
Und Walter? Ich habe ihn beinahe vergessen. Er sitzt mir gegenüber, hält den Kopf in die Hände gestützt und weint. Seine Tischnachbarin hat schon ihren Arm um ihn gelegt. Sie redet leise mit ihm. Walter, was geht jetzt in dir vor? Ich glaube, ich verstehe deine tiefe Erschütterung. Das muss so sein. Das ist gut so. Wir müssen so tief erschüttert sein, und dieses Gefühl muss Platz greifen in unseren Herzen. Nur so bewahren wir uns davor, jemals wieder ein anderes Land mit kriegerischen Absichten zu betreten.

Marga Voigt, Begegnungen in Belarus |