"Freundschaftliche Begegnungen in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten prägten und prägen in vieler Hinsicht mein Verständnis für heutige russische Innen- und Außenpolitik."
Eugen Neuber, Jahrgang 1939, Diplomsprachmittler, Mitglied im Verein der Berliner Freunde der Völker Russlands e.V., langjähriger Mitarbeiter des Zentralvorstandes der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, erzählt drei Geschichten über die Zeit seines Einsatzes in der Sowjetunion in den 90er Jahren.
Eugen Neuber, Jahrgang 1939, Diplomsprachmittler, Mitglied im Verein der Berliner Freunde der Völker Russlands e.V., langjähriger Mitarbeiter des Zentralvorstandes der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, erzählt drei Geschichten über die Zeit seines Einsatzes in der Sowjetunion in den 90er Jahren.
"Viktor Ich will zunächst über eine Freundschaft erzählen, die sich 1993 in Belarus ganz zufällig entwickelte. Schließlich entsteht Politik durch das Wirken von Menschen. Es war im März 1993 um 01.00 Uhr nachts. Ich war auf dem Heimweg von einem Treffen mit Kollegen, die nach ihrem Urlaub in Deutschland wieder zu unserer Baustelle in Berjosa zurückgekehrt waren. Mein Schäferhund-Mix mit deutsch-ukrainischer Lebensgeschichte begleitete mich fröhlich. Plötzlich sah ich einen sportlich wirkenden Mann mittlerer Größe, wie ich mit russischer Wattejacke bekleidet, in Geselschaft einer riesigen schwarzen Dogge. Es war eine Hündin. Sie nahm aber die freundlichen Kontaktversuche meines Rüden PRINZ ziemlich hochmütig auf. Mehr Interesse zeigte sie an dem Beutel in meiner Hand. Dort waren Wurst aus Deutschland, Radeberger Bier und Nordhäuser |
Doppelkorn. Natürlich hatte ich für die liebe Hündin mehrere Schmakazien. Hundefreunde verstehen sich. Mein Unbekannter eröffnete mir, dass ich ihm gerade recht komme. «Mne ne s kem vypit´» (ich habe keinen, der mit mir trinkt), sagte er traurig. Das heißt: ich will mit Dir einen trinken! Ich war zwar schon guter Stimmung, morgen war Arbeitstag, aber konnte ich „Nein“ sagen?
Wir setzten uns in eine Hoflaube. Tagsüber spielten darin Pensionäre leidenschaftlich Domino. Mein Gegenüber sagte: „Sa wstretschu!“-„Auf unser Treffen!“ Ich bewunderte sein Gehör, mit dem er in der Dunkelheit die beiden Senfgläser gefüllt hatte, ohne einen Tropfen zu verschütten. „Budem!“ antwortete ich. Das hieß: „So soll es sein“! Mein nächtlicher Freund schüttete mir sein Herz aus: Seine Frau bekomme bald ein Kind und war ihm böse, dass er so spät gekommen sei. „Poschol ty!“, hatte sie ge-sagt, ihn also rausgeschmissen. Er sollte sich mit dem Hund „auslüften“. Dabei haben er und seine Freunde ja nur die Dienststelle auf Vordermann gebracht. Ein „Revisor“ aus Moskau war angesagt, außerdem sollten am Nachmittag Deutsche von der hiesigen Baustelle seinen Fliegerhorst besuchen. Ich schmunzelte und bemerkte, auch während meines Dienstes in der Armee wurde tagelang gewienert, wenn Moskauer Inspektoren kommen sollten. (Ich sagte nicht: „In der NVA“.) Viktor fand bei mir Verständnis und fügte mit Betonung hinzu: „Da muss man doch mit seinen Freunden den erfolgreichen Abschluss der Vorbereitungsarbeiten würdigen!“ Ich war einverstanden und goss ihm mein Berliner Bier ein. Da fragte er: „Wo kommst du her?“ Aus Berlin! Er dachte, ich sei aus dem Baltikum.
Wir setzten uns in eine Hoflaube. Tagsüber spielten darin Pensionäre leidenschaftlich Domino. Mein Gegenüber sagte: „Sa wstretschu!“-„Auf unser Treffen!“ Ich bewunderte sein Gehör, mit dem er in der Dunkelheit die beiden Senfgläser gefüllt hatte, ohne einen Tropfen zu verschütten. „Budem!“ antwortete ich. Das hieß: „So soll es sein“! Mein nächtlicher Freund schüttete mir sein Herz aus: Seine Frau bekomme bald ein Kind und war ihm böse, dass er so spät gekommen sei. „Poschol ty!“, hatte sie ge-sagt, ihn also rausgeschmissen. Er sollte sich mit dem Hund „auslüften“. Dabei haben er und seine Freunde ja nur die Dienststelle auf Vordermann gebracht. Ein „Revisor“ aus Moskau war angesagt, außerdem sollten am Nachmittag Deutsche von der hiesigen Baustelle seinen Fliegerhorst besuchen. Ich schmunzelte und bemerkte, auch während meines Dienstes in der Armee wurde tagelang gewienert, wenn Moskauer Inspektoren kommen sollten. (Ich sagte nicht: „In der NVA“.) Viktor fand bei mir Verständnis und fügte mit Betonung hinzu: „Da muss man doch mit seinen Freunden den erfolgreichen Abschluss der Vorbereitungsarbeiten würdigen!“ Ich war einverstanden und goss ihm mein Berliner Bier ein. Da fragte er: „Wo kommst du her?“ Aus Berlin! Er dachte, ich sei aus dem Baltikum.
Unser Gespräch wurde immer herzlicher. Die Wurst als „Sakuska“ („Zubrot“) begleiteten auch einige Gläser «Nordhäuser“. Was soll´s, dachte ich. Bis 6.00 Uhr ist noch Zeit. Wir hatten auf der Baustelle die kunstvollen Gefechtsmanöver der Abfangjäger bewundert. Besonders die berühmte „Kobra-Figur“, wo eine MIG 29 aus voller horizontaler Geschwindigkeit senkrecht mit Nachbrenner in den Himmel schoss. „Das geht nur mit eiserner Gesundheit, dabei treffen den Piloten Überbelastungen bis 10 g. (Das entspricht einem 10-fachen Gewicht auf der Erde). Das ist ein harter Dienst!“ Ich brachte Viktor zu seiner Wohnung und entschuldigte uns bei seiner Frau für unser „Freundschaftstreffen“. Ein Rest schaukelte noch in der „deutschen Flasche mit Schraubverschluss“. Ich ließ sie ihm da, damit er sich am nächsten Morgen besser fühlen konnte. Die russische Sitte, einen |
„Aufwachtrunk“ am nächsten Morgen (gegen den Kater) zu trinken, habe ich selbst nie so richtig verstanden…
Unsere Freundschaft entwickelte sich. Am nächsten Tag empfing er uns als Stabschef des Standortes. Über unser nächtliches Treffen erfuhr niemand etwas. Gemeinsame Abendgänge mit unseren Hunden vertieften unser gegenseitiges Vertrauen. Seine „Lena“ kratzte sonntags häufig an meiner Wohnungstür, wenn ich noch nicht mit meinem „Prinz“ herausgekommen war. Ihre Begrüßung fiel den 98 cm Schulterhöhe entsprechend beeindruckend aus, wenn sie sich auf ihre Hinterpfoten stellte. Ihre Freundschaft war treu und innig.
Viktor erzählte mir auch, wie er als Instrukteur vietnamesischen Piloten neue sowjetische Jagdflugzeuge nahebrachte. Als die USA über Nordvietnam ihre strategischen Bomber B52 einsetzten, wurden sie von gut ausgebildeten Piloten reihenweise abgeschossen. „Die Amerikaner hatten damit gedroht, Vietnam in die Steinzeit zu bomben. Die Sowjetunion erklärte, das nicht zuzulassen.“ Viktor sah mich an und sagte: „Wie kann man erklären, im Interesse der freiheitlich-demokratischen Ordnung, das Mekongdelta ausradieren zu wollen?“ Er schwieg einige Zeit, dann sang er: „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“ Wir sangen das Lied gemeinsam. Andere Anlieger unseres Innenhofes schlossen sich an. Wir hatten viel Übereinstimmung in der Auffassung, dass durch Kriege internationale Probleme nicht zu lösen sind.
Wir trafen uns noch oft, bis er in ein entferntes Ausbildungszentrum entsandt wurde. Viktor war Pilot Erster Klasse und Testpilot. Ein Flieger-As. Er hatte viele Auszeichnungen bekommen und war ein kluger Offizier. Herz-lich erinnerte er sich auch an seinen Dienst in Wünsdorf.
Bei unserem Abschied sagte er mir: „Wir Belorussen sind ein sehr friedliebendes Volk. Wir haben in der Geschichte Schreckliches erlebt. Mit allen Nachbarn wollen wir gut zusammenleben. Aber nicht alle lassen sich allein mit gutem Zureden, zu einem friedlichen Zusammenleben bewegen. Diplomatie ist gut und notwendig. Dennoch muss für Leute, die es wissen wollen, für Hitzköpfe, klar sein, dass wir unsere Heimat schützen wollen und können! Wir wollen nicht über, aber auch nicht unter anderen Völkern leben. Wir wollen gleiches Maß!
Der Abschied fiel uns beiden schwer. Bald war auch mein Einsatz in Belarus beendet. Es war in Berjosa ein wunderschönes Neubaustädtchen entstanden mit Kindergarten und anderen Gesellschaftsbauten für heimkehrende sowjetische Militärangehörige…
An die Worte Viktors muss ich häufig zurückdenken. Wie oft wurden Handlungen der Sowjetunion, Russlands und von Belarus in vielen deutschen Massenmedien einseitig verurteilt, obwohl sie doch eigentlich nur dem Schutz des eigenen Landes dienten. Außenpolitik ist häufig recht kompliziert und nicht sehr durchsichtig. Gleichzeitig stelle ich mir immer wieder eine sehr einfache Grund-frage: Sind die Teilnehmer an der internatio-nalen Politik bereit, mit gleichem Maß die Sicherheitsinteressen aller Länder zu berücksichtigen und ihnen gleiche Rechte wie sich selbst zuzubilligen?
Viktor werde ich nicht vergessen.
Der Unbestechliche
Es war im März 1993. Ich brachte meine Kollegen in einem Kleinbus von Minsk zu unserer Baustelle in Berjosa. Die Stimmung war gut bis übermütig. Wir hatten nach langen Wochen mit ungezählten Überstunden einen halben Sonnabend frei bekommen. Der eigentliche Chef unseres Wohnungs- und Gesellschaftsbaus für heimkehrende sowjetische Militärangehörige übte im Auftrag der geldgebenden Bank aus Westdeutschland eine rigorose Kontrolle aus. Mit den Terminen waren wir in argem Verzug.
Heute aber war der Mann aus Süddeutschland großzügig gewesen. Seine Fußballmannschaft hatte ein Freundschaftsspiel in Minsk. Er hatte einige Kästen Paulaner Bier sowie blauweiße Fanartikel aus Deutschland kommen lassen. Ich trug das blauweiß gestreifte Hemd und einen Gürtel von meinem Freund Viktor. Meine jungen Kollegen wollten feiern und ich hatte das Fahren übernommen. Meinen lieben Hund PRINZ hatte ich mitgenommen. Das Fußballspiel – 3 zu 2 für die süddeutsche Mannschaft – hatte ich in der Hütte des bewachten Parkplatzes verfolgt und dabei durchaus ein notwendiges zusätzliches Auge auf unseren Kleinbus. Unsere Handvoll deutscher Fans wurde von dem Stadionspre-cher begrüßt – das schöne Spiel verlief freundschaftlich und wurde in dem vollen Stadion von den Zuschauern fair verfolgt.
Auf der Rückfahrt veranlassten meine Freunde einen dringlichen Halt auf einem Waldparkplatz. Plötzlich tauchte ein Motorrad mit Beiwagen der Verkehrspolizei auf und hielt etwa 30 Meter vor unserem Auto. Ein Milizionär winkte mir mit seinem schwarzen Stab und bedeutete recht energisch, dass ich allein kommen sollte. Sein mit Kalaschnikow bewaffneter Partner blieb am Beiwagen.
Ich wusste genau, dass ich sorgfältig alle Verkehrsvorschriften eingehalten hatte. Dennoch war mir etwas mulmig. Es hatte Gerüchte gegeben über „angebliche“ Milizionäre. Der kräftige Mann mit rotem Gesicht winkte mich zu sich: „А nu dychni!“ Ich sollte ihn anhauchen?! Das hatte ich schon in der Ukraine erlebt. Kurz zuvor hatte ich aus der Thermos-kanne eine Tasse Kaffee getrunken und hauchte ihn deshalb rücksichtsvoll an. „А nu jeschtscho ras dychni!“ Er wollte nochmals angehaucht werden. Danach wandte er sich kurz ab, hauchte in seine eigene Handfläche und sah mich verwundert an.
„Eto she nemez!“ (Das ist doch ein Deut-scher!) – sagte unser belorussischer Betonbauerbrigadier, den wir in Minsk getroffen und zu unserer Rückfahrt nach Berjosa mitgenommen hatten.
Die Situation entspannte sich. Milizionär Wassili hatte als Cheffahrer in Riesa gedient und kannte die DDR recht gut. Wir beide hatten sogar gemeinsame Freunde aus dem Standort Wünsdorf. Er wusste von dem Freundschaftsspiel und gratulierte uns. Er hatte eine Meldung über den Diebstahl eines deutschen Transporters erhalten und war deshalb zunächst vorsichtig gewesen.
Wir hatten reichlich Proviant mitgenommen. Den beiden Milizionären gab ich Kekse und Süßigkeiten für ihre Kinder und wünschte ihnen für den nächsten Tag eine angenehme Sonntagserholung. Dazu erhielten sie außerdem als Souvenir eine Flasche Paulaner. Die Stimmung im Kleinbus war nach meinem Bericht noch besser geworden.
Etwas später war 9. Mai in Berjosa. Ich besuchte mit meinem Hund die Gedenkveranstaltung und hatte auf ein Treffen mit Viktor gehofft, der von einer Reise zurückkommen sollte. Ich hielt mich mit PRINZ etwas abseits, um die Veranstaltung nicht zu stören.
Plötzlich wurde ich von einem kräftigen Arm gedrückt: Es war Wassili. Er machte mich mit seinen Freunden des Veteranenvereins bekannt. Bald wurden Lieder des Großen Vaterländischen Krieges gesungen. Als ich von meinen ersten Treffen mit Rotarmisten 1945 erzählte und die damaligen Lieder noch kannte, gab es viel zu feiern. Ich hatte auch etwas mitgebracht. Das Bier wurde gewürdigt, ohne den Wodka zu vergessen.
Nach dieser Feier gehörte ich dazu: Jeden Sonntag traf ich auf dem Markt gute Bekannte und hörte von den energischen Taten meines Wassili. Er wurde als unbestechlicher Gesetzeshüter gerühmt. Er hatte sogar den Vorsitzenden des Rayonexekutivkomitees (entspricht unserem Landrat) wegen Einfahrens in eine Einbahnstraße betraft. Am meisten freundlich belacht wurde jedoch, dass er sich selbst bestrafte, als er versehentlich im Parkverbot parkte.
Als ich meinen Arbeitseinsatz beendete und nach Deutschland zurückfuhr, hatten er und seine Freunde an der Rayongrenze eine kleine Straßensperre arrangiert, damit wir uns auf russische Art verabschieden konnten. Den unbestechlichen Wassili mit dem guten Herzen werde ich nicht vergessen.
Uwes Liebe
Mein Freund Uwe war ein handfester Mecklenburger. Von Beruf Bautischlermeister, eifriger Leichtathlet und von Natur mit Humor ausgestattet, war er lange Zeit Organisator und Mittelpunkt vieler kollegialer Feiern gewesen.
Sehr ungewohnt kam Uwe einsilbig aus Neubrandenburg zurück. Er war in der Nacht nach einem Kurzurlaub eingetroffen. Eigentlich war es auf unserer Baustelle mit überwie-gend Mecklenburger Baumännern üblich, Abfahrt und Rückkehr vom seltenen Urlaub gemeinsam zu würdigen: „Gut gegessen?“ „Ja!“ „Gut getrunken?“ „Jaa!“ „Und…?“:„Und, auch jaaaa!“. Auf einer fast ausschließlichen Männerbaustelle gab es nicht nur bei Ge-burtstagen in unserer guten Kantine viele Anlässe. Natürlich waren die Gedanken oft in der Heimat, bei den Nächsten…
Mein Uwe bat mich, am nächsten freien Tag mit ihm nach Brest zu fahren. Es war üblich, für unsere Kollegen im „Intershop“ in dem Grenzbereich verschiedene Dinge mit einzukaufen, die es in Berjosa nicht gab. Uwe holte mich mit dem Kleinbus ab. Er hatte schon sein Bautischlerwerkzeug eingeladen. Auf dem Rückweg sollten wir die Brigadierin der seit einem Monat auf dem Bau tätigen Malerinnen aus dem Dorf ihrer Mutter abholen. 1993 war der Busverkehr dorthin eingestellt worden, deshalb hatte sie für die Hinfahrt eine Mitfahrgelegenheit mit einem LKW-Fahrer vereinbart und wollte mit uns zurückfahren.
In der Gedenkstätte der Brester Festung erzählte ich Uwe von dem erbitterten Kampf der Rotarmisten. Schon auf dem Weg nach Minsk fuhren wir an einer Reihe großer Ge-denktafeln für die sowjetischen Heldenstädte vorbei.
Uwe erzählte mir dann, weshalb er so schweigsam war: Seine Frau aus DDR-Zeiten hatte sich gemeinsam mit ihm für den Bau eines Eigenheims auf dem Grundstück seiner Mutter entschlossen. Er selbst hatte im DDR-Wohnungsbau ein gutes Einkommen sowie Transport- und Baustoffe von seinem Betrieb günstig erhalten. Nach der Wende wurde er arbeitslos und baute in Eigenleistung weiter, wenn er bei Gelegenheitsarbeiten Geld für Baustoffe erarbeiten konnte. Die Auslandsbaustelle war für ihn die große Chance, mit besserem Verdienst schneller zum Abschluss seines Bauvorhabens zu kommen. Seine Frau hatte aber einen westdeutschen charmanten Chef mit viel Geld kennengelernt und konnte nicht mehr warten.
Mein Freund erfuhr auf der Baustelle in Berjosa viel Anerkennung. Er hatte auf der Abendschule noch seinen Meister gemacht und konnte für alle Bereiche als „Baubegleiter“ eingesetzt werden. Unsere ARGE ostdeutscher Baufirmen hatte als Hauptauftragnehmer vertraglich die Verpflichtung, die Ausführung der Bauarbeiten „nach europäischem Standard“ zu gewährleisten. Die Projektierungs- und Bauleistungen selbst wurden von belorussischen Baukombinaten ausgeführt. Die deutsche Finanzierung des Objektes ermöglichte den Bezug deutscher Materialien und Mechanisierungsmittel und somit eine höhere Qualität des Baus sowie auch eine wesentliche Rationalisierung der Arbeiten. Aber: All diese modernen Arbeitsmittel kannten unsere belorussischen Kollegen nicht.
Zur Unterstützung wurde eine Gruppe erfahrener deutscher Baufacharbeiter für die unmittelbare Hilfe bei der Ausführung der Arbeiten auf die Baustelle geholt. Auch Uwe mit seinen wahrhaft goldenen Händen. Mit seinen 1,95 m Länge war er in jeder Gesprächsgruppe sofort zu erkennen. Er war stets zu Scherzen bereit. Überall auf der Baustelle war er gern gesehen und als Fachmann anerkannt. Eifrig bemühte er sich um die Reakti-vierung seiner russischen Sprachkenntnisse aus der Polytechnischen Oberschule. Dabei passierten natürlich auch lustige Missverständnisse.
Die neu angekommene belorussische Malerinnenbrigade war für unsere jungen Kollegen ein echter Anziehungspunkt. Sie arbeitete auch am Montag pünktlich und exakt. Untergebracht wurden die Malerinnen in einer Baracke auf der zeitweiligen Baustelleneinrichtung mit Anschluss an die zuverlässige deutsche Warmwasser- und Heizungsanlage direkt neben unserer Kantine. Nach dem Abendessen saßen häufig unsere Kollegen auf einer Bank und hörten gern die Lieder der Frauen.
Sweta hatte mit ihren Kolleginnen die Fenster mit Blumenkästen verschönt. Uwe fragte mich, wie „Garten“ auf Russisch heißt. Er kannte Sweta ja schon dienstlich. Ich sagte ihm möglichst deutlich, das harte „S“ betonend „Sad“. Als Sweta vorbei ging, rief er: Sad! Mit einem weichen „S“. (Im Deutschen wird ja ein „S“ im Anlaut weich gesprochen.) Russisch heißt dann dieses Wort „Hintern“. Sweta reagierte empört. Ich hatte beobachtet, dass nicht nur unsere jungen deutschen, sondern auch die belorussischen Kollegen diese junge schlanke Frau gern mit Blicken begleiteten und ihr mit Anerkennung nachsahen, wenn sie vorüberging. „Opjat`!“ (Wie-der!) rief sie verärgert. Natürlich klärte ich sie über das obige Missverständnis auf.
Nun waren wir auf dem Weg zu ihr. Ihre Mutter, seit vielen Jahren Witwe, empfing uns in dem Dorf sehr freundlich und erklärte uns, der LKW-Fahrer habe noch einen zusätzlichen Fahrauftrag erhalten. Er sei in anderthalb Stunden da. Sie wollte uns erstmal zum Mit-tagessen einladen.
Wir beide hatten vor dem Eingang in ihr Grundstück einige sehr große Baumstämme erblickt. Diese waren von einem Schaufelrad-bagger vor ihrem Haus als Brennholz abgelegt worden. Einen Moment! – sagte Uwe. Er hatte eine starke Benzinkettensäge im Auto… In zwei Stunden hatten wir das Holz gesägt und säuberlich an der Hauswand aufgeschich-tet. Immer mehr Nachbarn kamen vorbei und betrachteten unsere Sonntagsarbeit.
Als Sweta eintraf, wurde gemeinsam ein Festessen veranstaltet. Ich erklärte mich zum Fahrer und trank keinen Tropfen Alkohol. Das war für uns alle auf dem Auslandseinsatz eisernes Prinzip. Uwe hatte für Sweta ein schönes Seidentuch aus dem Intershop mit-gebracht. Sie hatte es in ihre langen, bis zur Taille reichenden Haare eingeflochten. Auf der Baustelle sahen wir sie bisher nur mit hochgestecktem Haar und Kopftuch. Uwe war beeindruckt, aber auch Sweta zeigte für ihn Sympathie.
Uwe arbeitete danach über einen Monat auf einer weiteren Baustelle in Iwazewitschi. Auf unserem ersten gemeinsamen Rundgang dort sagte er plötzlich: „Sweta ist schwanger!“ Noch am gleichen Abend war ich bei ihm in seiner „Auswärtswohnung“. Sweta war auch da und Uwe wollte klare Verhältnisse haben. Er hatte schon ihr Eheversprechen erhalten. Mit meiner Hilfe erklärte er sein Eigenheimvorhaben auf dem Grundstück seiner verwitweten Mutter. Sweta war mit Uwes Plänen und Lebensvorstellungen einverstanden. Sie hatte bereits ein Jahr Architektur in Minsk studiert, aber wegen des guten Verdienstes auf der „deutschen“ Baustelle das Studium unterbrochen. Sie hatte nur zwei Wünsche: „Ich will keinen Mann, der trinkt!“ „Wir werden meine Mutter nicht vergessen!“
Uwe trank drei Monate nicht einmal Bier. Sweta lebte schon bei ihm. Er war als Projektverantwortlicher für die Fertigstellung einer „Regenwasserkläranlage“ eingesetzt worden. Die Übergabe wurde mit unseren belorussischen Freunden gefeiert, wie es üblich ist. Er musste einfach zu den vielen Trinksprüchen mittrinken. Alle mochten ihn ja. Ich brachte ihn zu Fuß nach Hause. Er war voller Sorge über mögliche Vorwürfe.
Am nächsten Tag strahlte er: Sweta hatte gelacht, ihn in das Bett gehievt und am Morgen sogar eine kalte Kompresse auf die Stirn gelegt. Es war unser Grundsatz, pünktlich zum Arbeitsbeginn zu erscheinen, wie lange auch der Abend gedauert hatte. Unsere belorussischen Freunde sahen das montags häufig anders.
Sweta und Uwe heirateten, sie zog mit ihm nach Neubrandenburg. Mit Uwes Mutter verstand sie sich sehr gut. Swetas Mutter war zu Besuch – drei Monate lang – als das Kind geboren wurde. Die kleine Tochter wuchs behütet und harmonisch auf. Uwe verdiente noch auf einer großen deutschen Baustelle in China gutes Geld. Sweta beaufsichtigte den Weiterbau seines Hauses.
Gute gemeinsame Arbeit entwickelt häufig Kameradschaft, Freundschaft, manchmal auch Liebe. Dieses Kapitel der deutsch-belorussischen Freundschaft freut mich bis heute!"
Unsere Freundschaft entwickelte sich. Am nächsten Tag empfing er uns als Stabschef des Standortes. Über unser nächtliches Treffen erfuhr niemand etwas. Gemeinsame Abendgänge mit unseren Hunden vertieften unser gegenseitiges Vertrauen. Seine „Lena“ kratzte sonntags häufig an meiner Wohnungstür, wenn ich noch nicht mit meinem „Prinz“ herausgekommen war. Ihre Begrüßung fiel den 98 cm Schulterhöhe entsprechend beeindruckend aus, wenn sie sich auf ihre Hinterpfoten stellte. Ihre Freundschaft war treu und innig.
Viktor erzählte mir auch, wie er als Instrukteur vietnamesischen Piloten neue sowjetische Jagdflugzeuge nahebrachte. Als die USA über Nordvietnam ihre strategischen Bomber B52 einsetzten, wurden sie von gut ausgebildeten Piloten reihenweise abgeschossen. „Die Amerikaner hatten damit gedroht, Vietnam in die Steinzeit zu bomben. Die Sowjetunion erklärte, das nicht zuzulassen.“ Viktor sah mich an und sagte: „Wie kann man erklären, im Interesse der freiheitlich-demokratischen Ordnung, das Mekongdelta ausradieren zu wollen?“ Er schwieg einige Zeit, dann sang er: „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“ Wir sangen das Lied gemeinsam. Andere Anlieger unseres Innenhofes schlossen sich an. Wir hatten viel Übereinstimmung in der Auffassung, dass durch Kriege internationale Probleme nicht zu lösen sind.
Wir trafen uns noch oft, bis er in ein entferntes Ausbildungszentrum entsandt wurde. Viktor war Pilot Erster Klasse und Testpilot. Ein Flieger-As. Er hatte viele Auszeichnungen bekommen und war ein kluger Offizier. Herz-lich erinnerte er sich auch an seinen Dienst in Wünsdorf.
Bei unserem Abschied sagte er mir: „Wir Belorussen sind ein sehr friedliebendes Volk. Wir haben in der Geschichte Schreckliches erlebt. Mit allen Nachbarn wollen wir gut zusammenleben. Aber nicht alle lassen sich allein mit gutem Zureden, zu einem friedlichen Zusammenleben bewegen. Diplomatie ist gut und notwendig. Dennoch muss für Leute, die es wissen wollen, für Hitzköpfe, klar sein, dass wir unsere Heimat schützen wollen und können! Wir wollen nicht über, aber auch nicht unter anderen Völkern leben. Wir wollen gleiches Maß!
Der Abschied fiel uns beiden schwer. Bald war auch mein Einsatz in Belarus beendet. Es war in Berjosa ein wunderschönes Neubaustädtchen entstanden mit Kindergarten und anderen Gesellschaftsbauten für heimkehrende sowjetische Militärangehörige…
An die Worte Viktors muss ich häufig zurückdenken. Wie oft wurden Handlungen der Sowjetunion, Russlands und von Belarus in vielen deutschen Massenmedien einseitig verurteilt, obwohl sie doch eigentlich nur dem Schutz des eigenen Landes dienten. Außenpolitik ist häufig recht kompliziert und nicht sehr durchsichtig. Gleichzeitig stelle ich mir immer wieder eine sehr einfache Grund-frage: Sind die Teilnehmer an der internatio-nalen Politik bereit, mit gleichem Maß die Sicherheitsinteressen aller Länder zu berücksichtigen und ihnen gleiche Rechte wie sich selbst zuzubilligen?
Viktor werde ich nicht vergessen.
Der Unbestechliche
Es war im März 1993. Ich brachte meine Kollegen in einem Kleinbus von Minsk zu unserer Baustelle in Berjosa. Die Stimmung war gut bis übermütig. Wir hatten nach langen Wochen mit ungezählten Überstunden einen halben Sonnabend frei bekommen. Der eigentliche Chef unseres Wohnungs- und Gesellschaftsbaus für heimkehrende sowjetische Militärangehörige übte im Auftrag der geldgebenden Bank aus Westdeutschland eine rigorose Kontrolle aus. Mit den Terminen waren wir in argem Verzug.
Heute aber war der Mann aus Süddeutschland großzügig gewesen. Seine Fußballmannschaft hatte ein Freundschaftsspiel in Minsk. Er hatte einige Kästen Paulaner Bier sowie blauweiße Fanartikel aus Deutschland kommen lassen. Ich trug das blauweiß gestreifte Hemd und einen Gürtel von meinem Freund Viktor. Meine jungen Kollegen wollten feiern und ich hatte das Fahren übernommen. Meinen lieben Hund PRINZ hatte ich mitgenommen. Das Fußballspiel – 3 zu 2 für die süddeutsche Mannschaft – hatte ich in der Hütte des bewachten Parkplatzes verfolgt und dabei durchaus ein notwendiges zusätzliches Auge auf unseren Kleinbus. Unsere Handvoll deutscher Fans wurde von dem Stadionspre-cher begrüßt – das schöne Spiel verlief freundschaftlich und wurde in dem vollen Stadion von den Zuschauern fair verfolgt.
Auf der Rückfahrt veranlassten meine Freunde einen dringlichen Halt auf einem Waldparkplatz. Plötzlich tauchte ein Motorrad mit Beiwagen der Verkehrspolizei auf und hielt etwa 30 Meter vor unserem Auto. Ein Milizionär winkte mir mit seinem schwarzen Stab und bedeutete recht energisch, dass ich allein kommen sollte. Sein mit Kalaschnikow bewaffneter Partner blieb am Beiwagen.
Ich wusste genau, dass ich sorgfältig alle Verkehrsvorschriften eingehalten hatte. Dennoch war mir etwas mulmig. Es hatte Gerüchte gegeben über „angebliche“ Milizionäre. Der kräftige Mann mit rotem Gesicht winkte mich zu sich: „А nu dychni!“ Ich sollte ihn anhauchen?! Das hatte ich schon in der Ukraine erlebt. Kurz zuvor hatte ich aus der Thermos-kanne eine Tasse Kaffee getrunken und hauchte ihn deshalb rücksichtsvoll an. „А nu jeschtscho ras dychni!“ Er wollte nochmals angehaucht werden. Danach wandte er sich kurz ab, hauchte in seine eigene Handfläche und sah mich verwundert an.
„Eto she nemez!“ (Das ist doch ein Deut-scher!) – sagte unser belorussischer Betonbauerbrigadier, den wir in Minsk getroffen und zu unserer Rückfahrt nach Berjosa mitgenommen hatten.
Die Situation entspannte sich. Milizionär Wassili hatte als Cheffahrer in Riesa gedient und kannte die DDR recht gut. Wir beide hatten sogar gemeinsame Freunde aus dem Standort Wünsdorf. Er wusste von dem Freundschaftsspiel und gratulierte uns. Er hatte eine Meldung über den Diebstahl eines deutschen Transporters erhalten und war deshalb zunächst vorsichtig gewesen.
Wir hatten reichlich Proviant mitgenommen. Den beiden Milizionären gab ich Kekse und Süßigkeiten für ihre Kinder und wünschte ihnen für den nächsten Tag eine angenehme Sonntagserholung. Dazu erhielten sie außerdem als Souvenir eine Flasche Paulaner. Die Stimmung im Kleinbus war nach meinem Bericht noch besser geworden.
Etwas später war 9. Mai in Berjosa. Ich besuchte mit meinem Hund die Gedenkveranstaltung und hatte auf ein Treffen mit Viktor gehofft, der von einer Reise zurückkommen sollte. Ich hielt mich mit PRINZ etwas abseits, um die Veranstaltung nicht zu stören.
Plötzlich wurde ich von einem kräftigen Arm gedrückt: Es war Wassili. Er machte mich mit seinen Freunden des Veteranenvereins bekannt. Bald wurden Lieder des Großen Vaterländischen Krieges gesungen. Als ich von meinen ersten Treffen mit Rotarmisten 1945 erzählte und die damaligen Lieder noch kannte, gab es viel zu feiern. Ich hatte auch etwas mitgebracht. Das Bier wurde gewürdigt, ohne den Wodka zu vergessen.
Nach dieser Feier gehörte ich dazu: Jeden Sonntag traf ich auf dem Markt gute Bekannte und hörte von den energischen Taten meines Wassili. Er wurde als unbestechlicher Gesetzeshüter gerühmt. Er hatte sogar den Vorsitzenden des Rayonexekutivkomitees (entspricht unserem Landrat) wegen Einfahrens in eine Einbahnstraße betraft. Am meisten freundlich belacht wurde jedoch, dass er sich selbst bestrafte, als er versehentlich im Parkverbot parkte.
Als ich meinen Arbeitseinsatz beendete und nach Deutschland zurückfuhr, hatten er und seine Freunde an der Rayongrenze eine kleine Straßensperre arrangiert, damit wir uns auf russische Art verabschieden konnten. Den unbestechlichen Wassili mit dem guten Herzen werde ich nicht vergessen.
Uwes Liebe
Mein Freund Uwe war ein handfester Mecklenburger. Von Beruf Bautischlermeister, eifriger Leichtathlet und von Natur mit Humor ausgestattet, war er lange Zeit Organisator und Mittelpunkt vieler kollegialer Feiern gewesen.
Sehr ungewohnt kam Uwe einsilbig aus Neubrandenburg zurück. Er war in der Nacht nach einem Kurzurlaub eingetroffen. Eigentlich war es auf unserer Baustelle mit überwie-gend Mecklenburger Baumännern üblich, Abfahrt und Rückkehr vom seltenen Urlaub gemeinsam zu würdigen: „Gut gegessen?“ „Ja!“ „Gut getrunken?“ „Jaa!“ „Und…?“:„Und, auch jaaaa!“. Auf einer fast ausschließlichen Männerbaustelle gab es nicht nur bei Ge-burtstagen in unserer guten Kantine viele Anlässe. Natürlich waren die Gedanken oft in der Heimat, bei den Nächsten…
Mein Uwe bat mich, am nächsten freien Tag mit ihm nach Brest zu fahren. Es war üblich, für unsere Kollegen im „Intershop“ in dem Grenzbereich verschiedene Dinge mit einzukaufen, die es in Berjosa nicht gab. Uwe holte mich mit dem Kleinbus ab. Er hatte schon sein Bautischlerwerkzeug eingeladen. Auf dem Rückweg sollten wir die Brigadierin der seit einem Monat auf dem Bau tätigen Malerinnen aus dem Dorf ihrer Mutter abholen. 1993 war der Busverkehr dorthin eingestellt worden, deshalb hatte sie für die Hinfahrt eine Mitfahrgelegenheit mit einem LKW-Fahrer vereinbart und wollte mit uns zurückfahren.
In der Gedenkstätte der Brester Festung erzählte ich Uwe von dem erbitterten Kampf der Rotarmisten. Schon auf dem Weg nach Minsk fuhren wir an einer Reihe großer Ge-denktafeln für die sowjetischen Heldenstädte vorbei.
Uwe erzählte mir dann, weshalb er so schweigsam war: Seine Frau aus DDR-Zeiten hatte sich gemeinsam mit ihm für den Bau eines Eigenheims auf dem Grundstück seiner Mutter entschlossen. Er selbst hatte im DDR-Wohnungsbau ein gutes Einkommen sowie Transport- und Baustoffe von seinem Betrieb günstig erhalten. Nach der Wende wurde er arbeitslos und baute in Eigenleistung weiter, wenn er bei Gelegenheitsarbeiten Geld für Baustoffe erarbeiten konnte. Die Auslandsbaustelle war für ihn die große Chance, mit besserem Verdienst schneller zum Abschluss seines Bauvorhabens zu kommen. Seine Frau hatte aber einen westdeutschen charmanten Chef mit viel Geld kennengelernt und konnte nicht mehr warten.
Mein Freund erfuhr auf der Baustelle in Berjosa viel Anerkennung. Er hatte auf der Abendschule noch seinen Meister gemacht und konnte für alle Bereiche als „Baubegleiter“ eingesetzt werden. Unsere ARGE ostdeutscher Baufirmen hatte als Hauptauftragnehmer vertraglich die Verpflichtung, die Ausführung der Bauarbeiten „nach europäischem Standard“ zu gewährleisten. Die Projektierungs- und Bauleistungen selbst wurden von belorussischen Baukombinaten ausgeführt. Die deutsche Finanzierung des Objektes ermöglichte den Bezug deutscher Materialien und Mechanisierungsmittel und somit eine höhere Qualität des Baus sowie auch eine wesentliche Rationalisierung der Arbeiten. Aber: All diese modernen Arbeitsmittel kannten unsere belorussischen Kollegen nicht.
Zur Unterstützung wurde eine Gruppe erfahrener deutscher Baufacharbeiter für die unmittelbare Hilfe bei der Ausführung der Arbeiten auf die Baustelle geholt. Auch Uwe mit seinen wahrhaft goldenen Händen. Mit seinen 1,95 m Länge war er in jeder Gesprächsgruppe sofort zu erkennen. Er war stets zu Scherzen bereit. Überall auf der Baustelle war er gern gesehen und als Fachmann anerkannt. Eifrig bemühte er sich um die Reakti-vierung seiner russischen Sprachkenntnisse aus der Polytechnischen Oberschule. Dabei passierten natürlich auch lustige Missverständnisse.
Die neu angekommene belorussische Malerinnenbrigade war für unsere jungen Kollegen ein echter Anziehungspunkt. Sie arbeitete auch am Montag pünktlich und exakt. Untergebracht wurden die Malerinnen in einer Baracke auf der zeitweiligen Baustelleneinrichtung mit Anschluss an die zuverlässige deutsche Warmwasser- und Heizungsanlage direkt neben unserer Kantine. Nach dem Abendessen saßen häufig unsere Kollegen auf einer Bank und hörten gern die Lieder der Frauen.
Sweta hatte mit ihren Kolleginnen die Fenster mit Blumenkästen verschönt. Uwe fragte mich, wie „Garten“ auf Russisch heißt. Er kannte Sweta ja schon dienstlich. Ich sagte ihm möglichst deutlich, das harte „S“ betonend „Sad“. Als Sweta vorbei ging, rief er: Sad! Mit einem weichen „S“. (Im Deutschen wird ja ein „S“ im Anlaut weich gesprochen.) Russisch heißt dann dieses Wort „Hintern“. Sweta reagierte empört. Ich hatte beobachtet, dass nicht nur unsere jungen deutschen, sondern auch die belorussischen Kollegen diese junge schlanke Frau gern mit Blicken begleiteten und ihr mit Anerkennung nachsahen, wenn sie vorüberging. „Opjat`!“ (Wie-der!) rief sie verärgert. Natürlich klärte ich sie über das obige Missverständnis auf.
Nun waren wir auf dem Weg zu ihr. Ihre Mutter, seit vielen Jahren Witwe, empfing uns in dem Dorf sehr freundlich und erklärte uns, der LKW-Fahrer habe noch einen zusätzlichen Fahrauftrag erhalten. Er sei in anderthalb Stunden da. Sie wollte uns erstmal zum Mit-tagessen einladen.
Wir beide hatten vor dem Eingang in ihr Grundstück einige sehr große Baumstämme erblickt. Diese waren von einem Schaufelrad-bagger vor ihrem Haus als Brennholz abgelegt worden. Einen Moment! – sagte Uwe. Er hatte eine starke Benzinkettensäge im Auto… In zwei Stunden hatten wir das Holz gesägt und säuberlich an der Hauswand aufgeschich-tet. Immer mehr Nachbarn kamen vorbei und betrachteten unsere Sonntagsarbeit.
Als Sweta eintraf, wurde gemeinsam ein Festessen veranstaltet. Ich erklärte mich zum Fahrer und trank keinen Tropfen Alkohol. Das war für uns alle auf dem Auslandseinsatz eisernes Prinzip. Uwe hatte für Sweta ein schönes Seidentuch aus dem Intershop mit-gebracht. Sie hatte es in ihre langen, bis zur Taille reichenden Haare eingeflochten. Auf der Baustelle sahen wir sie bisher nur mit hochgestecktem Haar und Kopftuch. Uwe war beeindruckt, aber auch Sweta zeigte für ihn Sympathie.
Uwe arbeitete danach über einen Monat auf einer weiteren Baustelle in Iwazewitschi. Auf unserem ersten gemeinsamen Rundgang dort sagte er plötzlich: „Sweta ist schwanger!“ Noch am gleichen Abend war ich bei ihm in seiner „Auswärtswohnung“. Sweta war auch da und Uwe wollte klare Verhältnisse haben. Er hatte schon ihr Eheversprechen erhalten. Mit meiner Hilfe erklärte er sein Eigenheimvorhaben auf dem Grundstück seiner verwitweten Mutter. Sweta war mit Uwes Plänen und Lebensvorstellungen einverstanden. Sie hatte bereits ein Jahr Architektur in Minsk studiert, aber wegen des guten Verdienstes auf der „deutschen“ Baustelle das Studium unterbrochen. Sie hatte nur zwei Wünsche: „Ich will keinen Mann, der trinkt!“ „Wir werden meine Mutter nicht vergessen!“
Uwe trank drei Monate nicht einmal Bier. Sweta lebte schon bei ihm. Er war als Projektverantwortlicher für die Fertigstellung einer „Regenwasserkläranlage“ eingesetzt worden. Die Übergabe wurde mit unseren belorussischen Freunden gefeiert, wie es üblich ist. Er musste einfach zu den vielen Trinksprüchen mittrinken. Alle mochten ihn ja. Ich brachte ihn zu Fuß nach Hause. Er war voller Sorge über mögliche Vorwürfe.
Am nächsten Tag strahlte er: Sweta hatte gelacht, ihn in das Bett gehievt und am Morgen sogar eine kalte Kompresse auf die Stirn gelegt. Es war unser Grundsatz, pünktlich zum Arbeitsbeginn zu erscheinen, wie lange auch der Abend gedauert hatte. Unsere belorussischen Freunde sahen das montags häufig anders.
Sweta und Uwe heirateten, sie zog mit ihm nach Neubrandenburg. Mit Uwes Mutter verstand sie sich sehr gut. Swetas Mutter war zu Besuch – drei Monate lang – als das Kind geboren wurde. Die kleine Tochter wuchs behütet und harmonisch auf. Uwe verdiente noch auf einer großen deutschen Baustelle in China gutes Geld. Sweta beaufsichtigte den Weiterbau seines Hauses.
Gute gemeinsame Arbeit entwickelt häufig Kameradschaft, Freundschaft, manchmal auch Liebe. Dieses Kapitel der deutsch-belorussischen Freundschaft freut mich bis heute!"

Eugen Neuber: Freundschaftliche Begegnungen |